Kolumbien – Kokain, Armut, Transformation
Frankfurt am Main [ENA] In dem Dorf Caño Cabra, 240 km südöstlich von Bogotá, lebten die Einwohner vorwiegend vom Kokainanbau. Die Blätter wurden mit Zusatzstoffen in die Kokainpaste weiterverarbeitet. Heute stapeln sich die Päckchen mit der Paste in dem Schuppen des Kokainanbauers.
Das Dorf hat seine Einkommensquelle verloren. Das zum Abtransport fertige Kokain findet seit zwei Jahren keine Abnehmer mehr. Die wenigen Bauern und ihre Familien, die hier leben, sind heute mehr oder weniger Subsistenzbauern, d.h. sie leben von dem, was sie anbauen. Das Dorf schrumpfte von 200 Personen auf 40 im Laufe der letzten zwei Jahre. So wie es dem Dorf Caño Cabra erging, waren viele Gemeinden in Kolumbien von der Abkehr vom Kokainanbau betroffen. Es gibt kaum noch Infrastruktur, keinen Strom und kein fließendes Wasser aus der Leitung, keine öffentliche Schule. Die Bewohner sind trotz des von der Regierung auferlegten Kokain Substitutionsprogramms arm und haben kaum Zugang zu höherwertigen Nahrungsmitteln wie Fleisch oder Fisch.
Viele ehemals vom Kokainanbau abhängigen dörfliche Gemeinschaften schaffen es nicht mehr, ihre Ernährung zu sichern und wandern in die Städte oder in andere Regionen ab, um Arbeit zu finden. Binnenmigration ist schwierig. Viele Migranten leiden an dem Verlust ihrer Heimat und fühlen sich einsam. Die zurückgebliebenen versuchen es mit Viehwirtschaft und treiben damit die Entwaldung voran, was ökologische Folgen hat. Ein kleiner Teil wird von bewaffneten Gruppen angeworben, um sich mit kriminellen Handlungen über Wasser zu halten.
Andere illegale wirtschaftliche Tätigkeiten wie illegaler Bergbau (Goldsuche), Menschenhandel und Prostitution, Handel mit Wildtieren, illegaler Tropenholzabbau sollten keine Alternativen für ehemalige Kokainanbauer sein, werden aber in der Not durchgeführt. Seitdem die FARC, Revolutionary Armed Forces of Colombia, den Friedensvertrag mit der Regierung im Jahr 2016 unterzeichnet und ihre Waffen abgegeben hat, ist Kokain nicht mehr gefragt. Der Kokainhandel war die Einkommensquelle der Guerillaorganisation. Das Problem Kokain ist aber noch nicht vom Tisch. Die Produktionsmenge und der geschätzte Umsatz ist auf dem höchsten Niveau. Pablo Escabor (1949 – 1993), der Drogenbaron Kolumbiens, hätte von diesen Mengen nur träumen können.
Heute sind die Kokain-Anbauflächen im Westen, nahe der Grenze zu Ecuador und Peru, und nicht mehr in den Händen von Kleinbauern im Landesinnern. Der Anbau zählt heute zum Agrobusiness mit riesigen Flächen, chemischen Düngemitteln und hoher Produktivität. Die Produktion von Kokain ist 2022 um 24 % im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Wertmäßig erreichte der Exportumsatz von Kokain im Jahr 2021 12,4 Mrd. US Dollar, während er ein Jahr später im Jahr 2022 bereits 18,2 Mrd. betrug. Kokain wird in Südamerika angebaut. Ecuador ist der größte Produzent, danach folgt Peru und weitere zentralamerikanische Länder. Der Anstieg der Konsumption ist alarmierend. Während der Kokainkonsum in USA abgenommen hat, ist er in Europa und Asien gestiegen.
In einem Interview mit dem Präsidenten Gustavo Petro, das er am 26. Juli in Paris der Le Monde gegeben hat, erklärt er, dass er davon abgekommen ist, den Kokainanbau einzudämmen. Er richtet jetzt den Fokus darauf, den illegalen Drogenhandel zu bekämpfen. Petro ist heute zwei Jahre Präsident von Kolumbien. Er ist stolz darauf, die Armut im Land verringert zu haben. Nach einem sehr starken Anstieg der Armut durch die mit Covid-19 verbundenen Krise ermöglichten Regierungsprogramme im Jahr 2023 im Vergleich zu 2022 1,6 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien, was 10 % weniger arme Menschen entspricht. Die Armutsquote liegt heute bei 33 % im Landesdurchschnitt und bei 41% auf dem Land.
Möglich wurde dies durch eine Reihe von Maßnahmen im Zusammenhang mit der Agrarpolitik. Dazu gehören die Erhöhung des Mindestlohns um 12 % im Jahr 2024 und die Reduzierung von Lebensmittelpreisen. Die Agrarpolitik, die sich aus den Verpflichtungen des Friedensabkommens von 2016 mit der FARC ergibt, besteht darin, armen Bauern Land zu geben und die Lebensmittelproduktion des Landes zu stärken. Auf die Frage „Was verlangsamt den vollständigen Frieden?“ antwortet Petro, dass die Grundlage der gegenwärtigen Gewalt die illegalen Wirtschaftssektoren und der illegale Drogenhandel sind. Es ist nicht ein kolumbianisches Problem, sondern es ist ein globales Problem. Das in der Welt bestehende Verbot von Kokain hat für Südamerika desaströse Folgen.
Eine Million Lateinamerikaner starben im Krieg gegen Drogen, die meisten davon in Kolumbien. Der Drogenkrieg hat mehr Menschen getötet als in den meisten Militärkriegen der Gegenwart, und in der Regel handelte es sich dabei um zivile Opfer. Petro entwirft Szenarien und spricht Warnungen aus, die bei uns in Europa gehört werden sollen: Jetzt wächst die Mafia in Europa mit einer destabilisierenden und gewalttätigen Macht, die gerade erst am Anfang ist. Kokain wird nicht mehr in Kolumbien, sondern in Spanien, Belgien und Frankreich hergestellt. Illegale, ggf. mafia-ähnliche Vermarktungsorganisationen werden in der Lage sein, lokale Behörden zu zerstören, indem sie sie korrumpieren, wie es in Mexiko oder Kolumbien geschehen ist.
Und was Drogen betrifft, halten wir an einem Verbot fest, das unser Volk ermordet. Der Drogenkonsum könnte perfekt reguliert werden, mit einer starken Präventionspolitik, die viel weniger kosten würde, als ein mörderischer Krieg auf unserem Kontinent kostet. *Hinweis: Die hier dargestellten Aussagen sind Auszüge aus dem Interview, das in der Le Monde am 03.08.2024 erschienen ist. Die im oberen Teil dieses Artikels enthaltenen Information entstammen größtenteils dem Artikel „Colombia Faces a New Problem: Too Much Cocaine“ von Genevieve Glatsky, erschienen am 13.06.2024 in der New York Times.