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Oscar für „Zone of Interest“ - Filmkritik.

Verantwortlicher Autor: Kurt Lehberger Frankfurt am Main, 13.03.2024, 12:34 Uhr
Presse-Ressort von: Kurt Lehberger Bericht 3877x gelesen
Auschwitz I Stammlager, SS-Kommandantur, aufgenommen 2016
Auschwitz I Stammlager, SS-Kommandantur, aufgenommen 2016  Bild: Kai Loges und Andreas Langen

Frankfurt am Main [ENA] Rudolf und Hedwig Höß leben in einer Villa am Rande des Stammlagers Auschwitz I. Das Haus ist großzügig gebaut: helle Räume, hohe Decken, Platz für die bürgerliche Familie mit fünf Kindern. Dazu gehört ein großer Garten mit Gewächshaus und Pool für die Kinder.

Der Garten ist abgegrenzt durch die Mauer, hinter der die Baracken des Lagers stehen. Eine wunderschöne Landschaft am naheliegenden Fluss der Weichsel ergänzen das paradiesische, idyllische Bild - wären da nicht die Geräusche im Hintergrund: schreiende Menschen in Verzweiflung, das Quietschen von Eisenbahnwagons auf den Schienen, Schüsse, Hundegebell, Pfiffe und Kommandos und Qualm aus dem Schornstein des Krematoriums. Die Mutter von Frau Höß, die zu Besuch ist, kann die Geräusche nachts nicht ertragen und reist überraschend ab. Frau Höss hat sich im neuen Haus eingerichtet und lebt gut mit den Mitbringsel von ihrem Mann: Pelzmantel, Schokolade, Lippenstift.

Skrupellos eignet sie sich die Sachen an, die Jüdinnen vor ihrer Ermordung zurückließen. Es geht nur ums Private. Die Familie ist der Mittelpunkt von Frau Höß. Ihre Kinder sollen eine glückliche Kindheit haben. Wir sehen die Familie am Pool, beim Sport, Spiel, bei den Festen im Garten und beim Picknick am Flussufer. Höß tritt in einem weißen Anzug auf, selbst wenn er im Garten mit seiner Familie seine Freizeit verbringt. Hänsel und Gretel liest Höß seinen Kindern vor, er liest, wie die Hexe verbrannt wird, so grausam im Märchen, noch viel grausamer in der Wirklichkeit von Auschwitz. Drei Güterzüge täglich und ungefähr 4.000 Menschen in jedem Zug werden angekündigt.

Höß sucht und findet die technische Lösung den Flaschenhals der Leichenverbrennung zu überwinden, indem er ein neues Zirkelverfahren der Krematorien bauen lässt. Für seine Loyalität, den Fleiß und die pragmatische Herangehensweise wird er gelobt und befördert. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft versteckt nachts Äpfel in einem Erdhügel, der tagsüber von Häftlingen angehäuft wurde. Die Schaufeln stecken im Boden. Die Gefangenen werden am nächsten Morgen zurückkommen und die Äpfel essen. Die Szene ist in Weiß - Schwarz gedreht, das gleicht einer Folge von bewegten Negativfotos und erzeugt Signalwirkung. Verstörend ist eine Szene als Höß sich säubert, nach dem er Sex mit einer inhaftierten, jungen Frau hatte.

Der menschenverachtende Charakter von Frau Höss zeigt sich als sie eine Hausangestellte anschreit und ihr droht, dass ihr Mann sie der Vernichtung zuführe, wenn sie nicht den Anordnungen folge. Höß soll Auschwitz verlassen, um in Oranienburg sein Erfahrungswissen einzubringen. Seine Frau besteht darauf, das Heim mit Garten, Pool und Gewächshaus zu behalten, selbst wenn er dann nur an den Wochenenden und an den Urlaubstagen zu Hause ist. Nach wenigen Monaten wird Höß beauftragt, die Ermordung der ungarischen Juden und Jüdinnen in Auschwitz zu übernehmen. Er informiert freudig seine Frau. Sie ist stolz, als er sie „die Königin von Auschwitz“ nennt.

Am selben Abend wird ihm bewusst, was von ihm erwartet wird. Er ist allein im Treppenhaus und muss sich mehrmals übergeben. Der Vorhang fällt. Es folgen Szenen aus dem Alltag des Museums Auschwitz. Wir sehen die Ofentür des Krematoriums und den großen Raum dahinter zur Stapelung der Leichen. Wir sehen die Berge der zurückgebliebenen Schuhe der Menschen, die gleich nach der Ankunft in die Gaskammern geschickt wurden. Der Film braucht keine Bilder der Vernichtung zu zeigen. Unsere Fantasie reicht aus, uns vorzustellen, was hinter der Mauer im Garten passiert. Vorgespielt wird uns eine ganz normale Familie, doch die Wahrheit wird auch sie erreichen und die Maske wird ihnen entrissen werden.

Sie haben sich menschenverachtend verhalten und sich an den Opfern ohne Skrupel bereichert. Jeder ist für seine Taten verantwortlich. Höß hat nicht nur Befehle ausgeführt. Er hat die Vernichtung industrialisiert ohne Gewissen, ohne Gefühl und ohne Herz. Im Film zeigt er Wärme für die Familie und für sein Lieblingspferd. Im Unterbewusstsein scheinen die moralischen Konflikte eine Rolle zu spielen. Dies bleibt aber unausgesprochen. Der Film strahlt eine Ruhe aus. Die Natur, das frühmorgendliche Vogelgezwitscher, der sanfte Wind, der über das Gras weht, das Fließen des Wassers des Flusses, zieht uns in den Bann.

Zugleich hören wir die Nebengeräusche aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager und wissen um das Geschehen hinter der Mauer. Der Film zeigt, dass nur der Mensch, der sich seiner Menschlichkeit bewusst ist, Empathie für seine Mitmenschen zeigt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen weiß, seine Freiheit verteidigt und nicht den Befehlen des Bösen folgt, kann ein gutes Leben führen und zu einer besseren Welt beitragen. Dieses Filmprojekt erstreckte sich über einen Zeitraum von neun Jahren und ist nur durch die Zusammenarbeit mit dem Museum Auschwitz möglich gewesen.

Der Film ist sehenswert und hat den Oscar als „Bester fremdsprachiger Film“ verdient. Buch und Regie: Jonathan Glazer, Die Hauptrollen spielen Christian Friedel als Rudolf Höß und Sandra Hüller als seine Ehefrau Hedwig. Das gezeigte Bild ist aus dem Buch „Nebenan Auschwitz: Die Nachbarschaften der Lager Auschwitz I - III von Kai Loges und Andreas Langen, Hartmann Books 2021, in deutscher und in englischer Sprache. Der Titel des Fotos ist „Auschwitz I Stammlager, SS-Kommandantur“, Seite 52, copyright Kai Loges und Andreas Langen.

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