Donnerstag, 12.12.2024 08:48 Uhr

Buchrezension: Tar Baby von Toni Morrison

Verantwortlicher Autor: Kurt Lehberger Frankfurt am Main, 06.11.2024, 18:59 Uhr
Presse-Ressort von: Kurt Lehberger Bericht 1866x gelesen
Buchdeckel
Buchdeckel "Tar Baby" und die Karibik (Fotomontage)  Bild: Kurt Lehberger

Frankfurt am Main [ENA] Das Thema sind die Schwarzen, „Black people“, in Amerika. Die Geschichte ist komplex und zeigt den Rassismus in den zwischenmenschlichen Beziehungen und die Schwierigkeit der Identitätsfindung der Afro-amerikaner*innen. Jadine Childs ist eine der Hauptpersonen.

Sie ist 25 Jahre alt, sehr hübsch und gebildet. Sie hat ein Universitätsstudium in Literatur absolviert und lebt in New York, in Paris und auf einer karibischen Insel mit dem Namen „Ile de Chevaliers“. Sie ist schwarz. Sie stammt aus der Karibik. Ihre Eltern sind früh verstorben. Sie wächst bei ihrer Tante Odine und ihrem Onkel Sydney auf. Odine und Sydney sind ebenso schwarz und beide sind Hausangestellte in einer reichen Familie. Der Hausherr, Valerian Street, ist Fabrikbesitzer in der Zuckerrohrverarbeitung und ihm gehören große Teile der Insel. Sydney, der Ehemann von Odine, ist der Butler von Valerian Street und Odine die Köchin und Wäschefrau des Haushaltes.

Margaret Street ist die Ehefrau von Valerian Street. Sie war die Ms. Maine d.h. eine Schönheitskönigin als Valerian sie kennenlernte. Sie ist wie ihr Ehemann weiß. Beide gehören zur bürgerlichen, amerikanischen Oberschicht. Sie ermöglichten Jadine Schulbildung und Studium an renommierten Lehrinstituten. Wir erfahren hautnah, so wie in einem Bühnenstück, in Dialogen, Streitgesprächen und Selbstreflexionen viel über das alltägliche Leben dieser Gemeinschaft. Die Bühne ist der Salon der Villa auf der karibischen Insel de Chevaliers in der Dominikanischen Republik. In den Gesprächen erleben wir, die leisen Töne des Rassismus. Die Dienenden sind schwarz, die Herrschaften weiß. Valerian befiehlt, sein Wunsch wird erfüllt.

Er spricht vorurteilsbelastet von Mulatten, sie seien nicht zuverlässig und arbeitsscheu. Alle weiblichen Dienstmädchen werden von Valerian "Marie" genannt. Die schwarzen Menschen sind nicht würdig, mit ihrem Namen angesprochen zu werden. Er nennt Gideon den „Yardman“ (Gärtner), bezieht sich auf die schwarzen Menschen nur als Funktionsträger. Als Gideon angeblich Äpfel stiehlt, werden er und seine Frau Therese entlassen. Sie werden ihrer Lebensgrundlage beraubt. Valerian kennt keine Empathie oder Gnade. Er hält an seinem Entschluss fest, obwohl er eindringlich gebeten wird, nicht so hart zu dem Ehepaar zu sein, das seit vielen Jahren ihm ohne Tadel gedient hat.

„Therese und Gideon, sie haben die Äpfel gestohlen, Therese die Diebin und Gideon der Gauner. Ich habe sie entlassen“, sagt Valerian. In einer Parallelhandlung erfahren wir die prekäre Existenz von Son Green. Er ist ebenso wie Jadine, Odine und Sydney ein Farbiger. Er stammt aus Nord-Florida aus eine Afro-amerikanischer Familie. Sie gehört der unterprivilegierten Schicht an. Sie hat ihren eigenen Stolz und ihrer eigene Familiengeschichte. Son wird straffällig und flieht aus den USA. Er kommt als blinder Passagier über ein Schiff auf die Insel de Chevaliers und versteckt sich zufällig im Hause der Streets. Der schwarze Eindringling wird gönnerhaft von Valerian Street zu Tisch gebeten.

Ein festliches Mal für den Außenseiter, nur eine bescheidene Geste für den Hausherr. Doch es kommt anders als erwartet. Jadine und Son fühlen sich zueinander hingezogen, sie verlieben sich. Michael, der einzige Sohn von Margaret und Valerian Street, kommt nicht zum Weihnachtsfest. Schon seit Jahren bleibt er fern und erfindet Ausreden, warum er es nicht schafft, sie zu besuchen. Valerian leidet an seiner Beziehung zu seinem Sohn und flüchtet in sein Gewächshaus. Hier kontrolliert er das immer blühende Leben, das ihn selbst nicht zufriedenstellt.

An Weihnachten sitzen sie alle zusammen am festlich gedeckten Tisch. Valerie und Margaret, die weißen Herrschaften, reich und in der letzten Lebensphase, Sydney und Odine, die Diener*innen, Butler und Köchin, beide schwarz und Einheimische, dann Son und Jadine, beide schwarz, er mit falschen Papieren und ohne feste Arbeit, sie hübsch, erfolgreich und gebildet. Michael fehlt. Jetzt bricht Odine das Schweigen. Margaret hat ihren Sohn im Kindesalter über Jahre missbraucht. Die Gründe dafür sind nur angedeutet: Alkohol, Depressionen, unglückliche Liebe mit Valerian, ... das Rätsel bleibt offen. Odine weiß schon sehr lange von den Gräueltaten von Margaret, die sie ihrem leiblichen Kind antut. Sie sagt nichts.

Als Bedienstete sieht sie keine Veranlassung, einzuschreiten und die Taten dem Hausherren und Ehemann von Margaret zu melden. Das Drama entsteht in diesen unmoralischen Herrschaft- und Knechtschaft Verhältnissen. Die Herrschenden sind moralisch minderwertig gegenüber den Geknechteten. Das Liebespaar Jadine und Son flüchtet aus dem psychischen Chaos, das durch das Lüften des Familiengeheimnisses entstanden ist. Sie reisen nach New York und anschließend nach Florida. Jadine lebt außerhalb ihrer karibischen Dorfgemeinschaft. Schön sein, reich sein und berühmt sein, - sie modelt erfolgreich und ist auf dem Titelbild von „Elle“ -, das passt nicht in die indigene Welt ihrer Herkunft.

Jadine verleugnet jede Zugehörigkeit zur afrikanischen Kultur. Sie trägt einen Seerobben-Pelzmantel aus 90 Baby-Robben. Sie ist in einem reichen Haus der Weißen aufgewachsen. Sie verliert die Berührung mit ihren indigenen Vorfahren und dem mythischen Gedächtnis ihrer Herkunft, ihre Identität geht verloren. Die weiße Welt des bürgerlichen, kapitalistischen Westens ersetzt und zerstört die afrikanische, karibische Identität. Black women, farbige Frauen, differenzieren sich in der Hautfarbe. Sie sind nicht gleich, sondern erleben ihre farbige Seele in unterschiedlichen Nuancen. Die Mutterschaft, die Beziehung von Mutter und Tochter, hier von Jadine zur Tante Odine, steht im Mittelpunkt der Identitätsfindung.

Odine vermag es nicht, die Erbschaft der schwarzen Vorfahren an Jadine weiterzugeben (ancient properity). Therese, die Halbschwester von Son Green, und andere schwarze Frauen aus der Familie und dem Umfeld von Son, erniedrigen und belästigen Jadine (Harassment). Die Anwesenheit von Son offenbart den Rassismus sowohl der Weißen als auch der Schwarzen in Streets Haushalt. Son ist - in den Worten von Odine, nur ein „swamp neggar“ (nur ein N* aus dem Sumpf). Die Liebesbeziehung geht in Florida schnell zu Ende. Die Beziehung zwischen Jadine und Son, beide schwarz, ist von Leidenschaft, Gewalt, Differenzen in der Milieuerfahrung, von den unterschiedlichen Perspektiven und Lebensentwürfen gekennzeichnet.

Jadine ist intellektuell, hat Literatur studiert, liebt das pulsierende Leben in New York, modelt und lebt in Paris. Sie findet keinen Zugang zu ihrer schwarzen Herkunftsfamilie. Sie strebt das Leben einer Arbeiterinnenbiene an. Ehrgeizig, ambitioniert möchte sie zu der schönen Welt der Weißen und Reichen gehören. Son dagegen ist kriminell, gewalttätig, auch gegenüber Jadine. Er kehrt am Ende des Romans zurück auf die Insel ohne Zukunftsaussichten und in der Hoffnung Jadine wiederzusehen. Er bleibt in der afro-karibischen Gemeinschaft und findet hier vielleicht seine Identität. Das Ende ist offen.

Toni Morrison beschreibt die Natur, sodass sich die symbolische Verbindung zum Leben aufdrängt. Der sterbende Fluss, der langsam austrocknet und uns zeigt, wie vergänglich alles ist. Die Natur in Form des Dschungels und dem sumpfigen Gelände wird in einer Szene sehr eindringlich dargestellt. Jadine verläuft sich, stolpert über Äste, rutscht in den Schlamm, kommt nur kriechend voran und ist danach völlig erschöpft und kraftlos. Son rettet sie aus der misslichen Lage. Die Beschreibungen des Dschungels, der Veränderung der Landschaft durch die Dürre und des ausgetrockneten Flussbetts, zeigen die schriftstellerische Kraft von Toni Morrison.

Die sehr erhellenden Dialoge, in denen die Beziehungen von Herrschaft und Knechtschaft, z.B. die rassistische Haltung von Valerian zu seinem schwarzen Dienstpersonal, deutlich wird, zeugen von der tiefen Einsicht von Toni Morrison in die alltäglichen, rassistischen Erfahrungen der schwarzen Bevölkerung. Die Dialoge sind öfters zu lang und schwer zu verstehen, wenn man nicht native speaker des Amerikanischen ist. Was bedeutet Tar Baby? Tar Baby ist eine Puppenattrappe aus klebrigem Teer, die sich an alles heftet, was sie berührt, und die immer mehr anhaftet, je mehr man versucht, sie zu bekämpfen. Ähnlich wie sich Jadine im Sumpf bewegt und nur mit Mühe herauskommt.

Im Englischen ist der Begriff mit der Geschichte des Br'er Rabbit (Bruder Hase) verbunden. Ein weißer Mann stellt eine Puppe aus Teer auf, um den Hasen zu fangen. Viele Versionen des Tar Babys kommen in der Kultur der amerikanischen und afrikanischen Ureinwohner vor. Tar, übersetzt Teer, ist auch der Stoff, der Dinge verbindet. Tar wurde beim Bau der Pyramiden verwendet und wird im Hausbau der indigenen Bevölkerung auf der Karibik eingesetzt.

Eine weitere Bedeutung: Tar bedeutet Teer. Teer ist tiefschwarz, so wie die Hautfarbe von Menschen aus dem südlichen Afrika, Subsahara-Afrika. Tar Baby wird in der amerikanischen Umgangssprache für die Bezeichnung von einem schwarzen Jungen oder einem schwarzen Mädchen benutzt. Toni Morrison hat 1993 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Tar Baby ist 1981 erschienen.

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